(Erschienen im Bulletin Nr. 85/Februar 2001 des Vereins Schweizerischer Mathematik- und Physiklehrer VSMP)
'Schulen ans Netz' ist ein Aufruf aber auch eine Bewegung, die in den letzten Jahren den Zugang der Schulen zum Internet gefordert und gefördert hat. Netd@ys wurden veranstaltet, um die Entscheidungsträger für die Anliegen der Schule zu sensibilisieren. Heute ist einiges bereits Routine geworden, an anderen Stellen wartet aber noch viel Arbeit. Als ganz wichtig erachte ich aber die Frage, was das Internet zum Erfüllen des Bildungsauftrages der Schule beitragen kann.
Wieviele Schulen am Netz sind, kann man etwa erahnen, wenn man die Liste der Schulen mit einem eigenen Internetauftritt ansieht (1). Diese Liste wird laufend länger. Und noch viel mehr Schulen haben Zugang zum Netz. Die Aufrufe an die Politiker und die Schulbehörden haben sicher genützt. Computer werden neu eingerichtet, nachgerüstet, Netzwerke werden aufgebaut, günstige Schulangebote der Provider sind auch vorhanden. Hier läuft also etwas. Allerdings wird der Bedarf an finanziellen Mitteln dauerhaft anhalten, da eine breite Infrastruktur einen entsprechenden Erneuerungsbedarf nach sich zieht.
Weniger gut sieht es bei der Betreuung und Wartung der Informatikinfrastruktur in den Schulen aus. Genügte vor Jahren noch die Entlastung einer Lehrperson mit 1 -2 Lektionen, ist es heute bei der vernetzten Schule eine Aufgabe für einen Kommunikationsprofi. Ich denke, dass hier der Netzwerktechniker eingesetzt werden sollte und nicht der Pädagoge. Übrigens bietet die Schrift 'Beschaffung und Betrieb von Informatikmitteln an allgemeinbildenden Schulen' von Yvan Grepper und Beat Döbeli (2) gute Lösungsvorschläge an.
Ein Problemfeld ist die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen. Damit die neuen Medien und das Internet erfolgreich in der Schule genutzt werden können, brauchen die Lehrpersonen neben Anwenderfertigkeiten und einem Konzeptwissen in der Informations- und Kommunikationstechnik (ICT) vor allem den Zugang zu didaktischen Konzepten und die Bereitstellung von unterstützenden Materialien.
Durch das Internet sind unglaublich viele Informationen verfügbar. Und wenn das Netz immer und überall zugänglich ist, fragt man sich, was heute und in Zukunft noch Wissen wert ist. Wenn man Probleme lösen und Fragen beantworten will, stellt sich aber schnell heraus, dass es ohne persönliches Wissen nicht geht. Dieses persönliche Wissen werden sich die Lernenden, beraten und betreut von den Lehrpersonen, selbst aufbauen. Der Schule fällt die Aufgabe zu, die Lernenden zu unterstützen beim Gewinn der Erkenntnis, was unverzichtbares Langzeitwissen ist. Vermehrt wird das Gewicht auf dem Erwerb von Fähigkeiten zur Problemlösung und Fertigkeiten im Umgang mit Wissen liegen. Die Lernenden sollen sich kritisch mit Inhalten auseinandersetzen und lernen, einen ernsthaften Disput über Streitfragen auszutragen. Es geht also darum, zu wissen, wie man etwas macht und wie Zusammenhänge zwischen verschiedenen Dingen hergestellt werden können.
Das Internet ist ein individuell nutzbares Medium. Diese Eigenschaft kann für konstruktives Lernen dienen. Voraussetzung ist eine dem Vorwissen der Lernenden angepasste Lernumgebung und geeignete Problemstellungen. Das ist aber gar nicht so einfach, denn brauchbare Unterrichtsmaterialien, Anleitungen, fachdidaktische Vorlagen gibt es je nach Fach nur wenige. Heute versuchen sich auch die Lehrmittelverlage in Angeboten für 'Unterichten mit Internet'. Wenn aber unter dem Schlagwort 'Bessere Noten' fast nur die immer wieder gleichen Drill- und Practiceprogramme vorgestellt werden, ist den Lehrenden nicht sehr gedient. Wir brauchen Lehr-Lern-Arrangements, die in die konkrete Unterrichtssituation eingebettet werden können. Ein Beispiel für die konstruktivistische Nutzung des Internets sind Webquests, also Fragestellungen mit ausgewählten Linklisten, welche ein Abtauchen der Lernenden in den Tiefen des Web verhindern. Ich habe im Physikunterricht mit Webquests (3) experimentiert und sehr positive Erfahrungen gemacht. Die Studierenden sind engagiert bei der Arbeit, es gibt oft interessante Diskussionen. Dabei wird physikalisches Wissen aufgebaut, aber es werden im Vorbeigehen auch Informationen aus anderen Bereichen aufgenommen. Der Schweizerische Verein für Informatik in der Ausbildung (SVIA) (4) will auf seiner Internetseite ausgewählte Links auf empfehlenswerte Webquests (5) sammeln.
Ich denke, dass es nützlich wäre, wenn sich alle Lehrpersonen ein Portfolio ihrer ICT-Kompetenzen erstellen könnten. Für den Anwenderbereich gibt das Programm von ECDL (6) (European Computer Driving Licence) mit seinem Syllabus eine gute Grundlage ab. Der Rahmenlehrplan für die Maturitätsschulen (7) enthält die Ziele für das Konzeptwissen von MaturandInnen. Diese Ziele sollten auch von Lehrpersonen erreicht werden. In der Fachdidaktik müssen Weiterbildungsmöglichkeiten aufgebaut werden. Regionale ICT-Kompetenz- und Didaktikzentren sollen die Verbindung zur universitären Forschung und die Verankerung in der Praxis garantieren. FachdidaktikerInnen sollten etwa zur Hälfte an ein Zentrum mit dem Auftrag zu angewandter Forschung, Entwicklung und Lehre verpflichtet sein. Zur anderen Hälfte sollten sie selber unterrichten, damit sie den Kontakt mit der Schule haben. Eine konkrete Aufgabe wäre auch die Entwicklung und stufengerechte Aufbereitung von Unterrichtsmaterialien, wie auch die Erstellung von Lehr-Lern-Arrangements unter Berücksichtigung der Möglichkeiten des Internets.
Ein Portfolio gibt Auskunft über die Kompetenzen. Dann sind aber Massnahmen zu ergreifen, um die Kompetenzlücken zu füllen. Anreize z.B. nach dem Prinzip 'Wer sich bildet, kommt weiter' könnten die Lehrpersonen für die Weiterbildung gewinnen. Die Schulbehörden sollten durch Entlastungen und finanzielle Unterstützung speziell die fachdidaktische Kompetenzsteigerung fördern. Hier ist noch viel überzeugungs- und Lobbyarbeit zu leisten. Der SVIA ist im Gespräch mit universitären Partnern, der Weiterbildungszentrale Luzern (WBZ), Behörden und Politikern.
Eine eigene Homepage für den Unterricht ist eine nützliche Sache. Ich experimentiere seit einiger Zeit damit, um Erfahrungen zu sammeln (8). So kann ich Unterrichtsmaterialien für alle Studierenden zugänglich machen. Der Semesterplan mit Lernzielen für jede Woche wird zur Selbstverständlichkeit. Auch die Foliensätze, die ich für die einzelnen Lektionen brauche, habe ich ins Netz gestellt, damit ich sie jederzeit und von überall her abrufen kann. Sollen diese Dokumente so frei im Internet zugreifbar sein? Sicher lassen sich Zugriffsrechte vergeben, aber es ist immer eine Frage des Aufwands für Unterlagen, die ja sinnvollerweise nur in meinem Unterricht mit dem vollen Nutzen eingesetzt werden können. Und wieviele potentielle Nutzer erreichen meine Seiten wirklich? Ich mache mir derzeit keine Sorgen zu dieser Frage.
Die Präsenz im Internet hat für eine Lehrperson eine weitere Bedeutung. Das Internet ist ja auch das Schaufenster, in dem Interessenten das Angebot eines Lehrgangs betrachten können. Ich denke, dass dieser Aspekt in Zukunft wichtiger wird. Wenn jetzt in verschiedenen Kantonen Konkurrenz zwischen den Schulen zugelassen wird, spielt die Profilierung der Schule eine wichtige Rolle. Und das Profil wird nicht zuletzt durch die Lehrpersonen gestaltet. Konstruktives Lernen heisst auch Lernen nach seinen Bedürfnissen und Wünschen. Das bedeutet, dass die Lernenden das Angebot besser kennen wollen, bevor sie sich in einen Lehrgang einschreiben. Das zwingt uns Lehrpersonen zu einer grösseren Transparenz bei den Kursen und zur offenen Darstellung des Lehrangebots.
Mathematik und Physik sind bei der Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten immer vorne dabei gewesen. So sind heute auch viele Sites für diese Fächer zugänglich. Für die Physik gibt es Java-Aplets, also Computerprogramme, die in einem Browser lauffähig sind. Sie stellen interaktive Simulationen zu vielen Bereichen der Physik dar. Unter der Bezeichnung Physlets (9) sind die Aplets von Wolfgang Christian vom Davidson College, North Carolina zu finden. An der Universität Kaiserslautern wird eine deutsche Physlet-Seite (10) nach dem Originalmodell aufgebaut. Speziell interessant sind darin Baukästen, mit denen auch Unerfahrene schnell den Code für ein Physlet erzeugen können. Ein erstes Angebot ist eine optische Bank, auf der man frei Experimente aufbauen kann. Ein weiterer Baukasten ist zu elektrischen Schaltkreisen angekündigt. Eine andere Aplet-Sammlung ist jene von Walter Fendt (11) aus Augsburg.
Physik 2000 (12) bietet eine sehr gut geführte interaktive Reise durch die moderne Physik an. Es ist die in Bonn abgelegte deutsche übersetzung des Originals der University of Colorado. Multimedia Physik (13) von Peter Krahmer, Würzburg, verweist unter http://www.schulphysik.de/ auf eine schier unfassbare Menge von Angeboten aus aller Welt. Dort sind auch die Top Ten aus der Physik zu finden. Eine sehr treffend kommentierte Linksammlung (14) zur Physik hat das Bayerische Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung, eine weitere die Fachdidaktik der ETH Zürich (15).
Ein wichtiger Kernpunkt des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts ist für mich die Modellbildung. Naturwissenschaftsunterricht verpflichtet auch zur Wahrnehmung der Natur in all ihren Dimensionen, er unterstützt den Aufbau des eigenen Weltbilds. Und die Kunst des Argumentierens und des logischen Schliessens sollte zumindest als Versuch in der Schule Anerkennung finden.
Neben der Hochschulreife sollen MaturandInnen eine intellektuelle Schulung, eine breite, ausgewogene, auch musische Bildung erhalten und ihre Persönlichkeit entwickeln und festigen können. So steht es in der Einleitung zum Rahmenlehrplan für die Maturitätsschulen der EDK (16). Nicht die Akkumulation von Wissen ist also das Ziel, aber der Umgang mit Wissen, die Bewertung und Beurteilung der Informationen und die kritische Auseinandersetzung. Damit sollen gefestige Persönlichkeiten herangebildet werden, die den Ansprüchen unserer komplexeren Welt gewachsen sind. Das Internet kann helfen, Kontakte und Verbindungen aufzubauen und zu halten. Dazu braucht es aber gleichzeitig eine Kultur der Kommunikation. Das Internet ist sehr nützlich. Aber für sich ein Wertesystem aufzubauen geschieht durch die Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundfragen, welche die Menschheit immer schon beschäftigten. Das Internet ersetzt nicht das persönliche Netz, das durch die direkte Begegnung und das Zusammenleben von Menschen geknüpft wird. Ich denke, das Internet soll nicht überbewertet werden.
Ein Blick zurück, fünf oder zehn Jahre, lässt erahnen, wie es weitergehen wird. Schneller, noch mehr Daten, noch mehr Aufwand für die Selektion der gewünschten Informationen, noch hektischere Kommunikation. Automatische Systeme werden uns die Qual der Auswahl abnehmen. Die totale Vernetzung führt auch zur überwachbarkeit all unseres Handelns. Damit wächst die Gefahr des Missbrauchs durch mächtige Interessensträger. Dagegen ankämpfen können wir nur mit umfangreichem, breit verteiltem Wissen bei den Bürgern und einem Sinn für Verantwortung in der Gesellschaft. Ethikunterricht ist unverzichtbar wie auch eine breite informatische Bildung. Wir brauchen Menschen, die sich für unsere Gesellschaft interessieren und engagieren, in der Politik, um den Rahmen für gesellschaftliches Tun zu setzen, als Verantwortungsträger in der Wirtschaft und als Förderer unserer Kultur.
6.12.2009 kn